Nicht aus Mitleid und Barmherzigkeit

Menschen mit Behinderung haben einen Rechtsanspruch auf Teilhabe

von Michael Seidel

Mitleid und tätige Nächstenliebe nach dem biblischen Vorbild des barmherzigen Samariters: Das waren im christlich geprägten Europa über Jahrhunderte die bestimmenden Motive der Unterstützung für Arme, Benachteiligte und auch für Menschen mit Behinderungen. Staatlich geregelte Fürsorgeleistungen gab es anfangs für „Krüppel“ und „Idioten“ nicht. Der feudalen Obrigkeit oblag es, bedürftige Menschen nach eigenem Gutdünken zu unterstützen. Religiöse Gemeinschaften wie der Alexianer-Orden übernahmen Organisation und praktische Aufgaben der Fürsorge für bedürftige Menschen. Dazu waren sie überwiegend auf mildtätige Spenden angewiesen.

Erst das 19. Jahrhundert brachte die Wende.

Ein rasanter Industrialisierungsprozess, die städtische Konzentration der rasch anwachsenden Bevölkerung, zunehmende Verelendung großer Bevölkerungsteile infolge ausbeuterischer Arbeitsbedingungen, Invalidität, Arbeitslosigkeit und soziale Entwurzelung: Der Problemdruck führte zu sozialen Unruhen und zum Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung. Christliche Initiativen wie Wicherns Innere Mission reagierten darauf mit doppeltem Ziel: Linderung des individuellen wirtschaftlichen Elends einerseits, soziale Befriedung, Missionierung und Rückbindung der entkirchlichten Bevölkerung an das volkskirchliche Milieu andererseits. Der Staat, das Deutsche Reich, sah sich zur Entwicklung sozialstaatlicher Strukturen veranlasst. Gemeinhin wird die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung im Kaiserreich als formeller Auftakt angesehen.

Die Entwicklung des deutschen Sozialstaates gilt seit den 1960er Jahren als grundsätzlich abgeschlossen. Bei seiner Herkunft aus dem 19. Jahrhundert verwundert es nicht, dass er noch lange deutliche paternalistische, bevormundende Züge trug und sich deshalb zunehmend Reformbedarf artikulierte.

Dabei trafen sich, vereinfacht formuliert, zwei Linien der Kritik: Die einen drängten auf die Beseitigung paternalistischer Strukturen und Praktiken sowie auf die Anerkennung von Selbstbestimmung der Leistungsempfänger:innen. Die anderen, mehr oder minder neoliberal motiviert, nahmen die vorgebliche Großzügigkeit des „Wohlfahrtsstaates“ zum Anlass, um Leistungskürzungen zu fordern – nicht ohne sie wohlklingend zu verpacken.

Leistungen der sozialen Unterstützung für Menschen mit Behinderung regelte von 1961 bis 2004 das Bundessozialhilfegesetz, dann wurde es vom Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches abgelöst. Dessen zweites Kapitel regelte die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung. Mit dem Bundesteilhabegesetz von 2016 wurde der gesamte Bereich „Behinderung“ aus der Sozialhilfe herausgelöst. Menschen mit Behinderung sollen nicht mehr als „Sozialhilfefälle“ betrachtet werden.

Internationale Entwicklungen trugen dazu bei, dass in der bundesdeutschen Fachwelt der Behindertenhilfe wichtige Positionen schrittweise wahrgenommen und anerkannt wurden, beispielsweise die Beseitigung absondernder Lebenswelten und ein normaler Umgang mit Menschen mit Behinderung (Normalisierungsprinzip), die Forderung nach umfassenden Teilhabe-Chancen für Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft sowie die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung in den eigenen Angelegenheiten.

Nicht ohne uns über uns!

Zu Recht verlangen die „Betroffenen“, also die Menschen mit Behinderungen, immer wieder, dass ihre Interessen berücksichtigt und ihre Sichtweisen einbezogen werden. Sie wollen gleichberechtigt agierende und aktiv mitgestaltende Subjekte ihrer konkreten Lebensbedingungen, aber auch der Sozialpolitik sein. Sie wollen aktiv mitwirken, beteiligt sein.

Disability mainstreaming!

Zu Recht fordern sie, dass „Behinderung“ ein zentrales Thema politischer, administrativer und zivilgesellschaftlicher Entscheidungsprozesse und Aktivitäten wird. Denn es ist kein Thema nur von und für Spezialist:innen, es geht alle Bürgerinnen und Bürger an.

Aber was ist eigentlich „Behinderung“?

Fachlicher Konsens ist heute: Eine Behinderung ergibt sich immer aus der Wechselwirkung zwischen den bestehenden Beeinträchtigungen einer Person und den umfassenden Bedingungen ihrer sozialen und physischen Umwelt. Diese Bedingungen, sogenannte Kontextfaktoren, können förderlich oder hemmend sein. Im letzteren Fall nennt man sie Barrieren.

Barrieren sind keineswegs nur baulicher Art – etwa fehlende Rampen oder Aufzüge. Barrieren sind auch fehlenden Unterstützungsangebote oder negative Einstellungen und Vorurteile beziehungsweise Ablehnung gegenüber Menschen mit Behinderung. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, positive Kontextfaktoren für Menschen mit Behinderung zu gestalten und Barrieren jeder Art zu beseitigen. Dazu gehört:

  • Kommunikationshemmnisse in Schriftstücken oder auf Websites beseitigen,
  • barrierefreie digitale Kommunikation ermöglichen,
  • eine einfache Sprache in Schriftstücken verwenden,
  • barrierefreie bauliche Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude oder Verkehrsmittel sicherstellen.

Wenn die Gestaltung von Umweltgegebenheiten darauf ausgerichtet ist, niemanden auszugrenzen, spricht man von universellem Design. Offenkundig haben viele, manchmal alle etwas davon.

Behindert ist man nicht, behindert wird man.

Mit dem modernen Behinderungsbegriff, der inzwischen auch schrittweise in die deutsche Sozialgesetzgebung einfließt, wird die Perspektive, Behinderung sei ein rein individuell bewirktes Problem, überwunden. Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung sowie die Akteur*innen der Sozialpolitik hatten und haben oft Mühe, sich diesen Entwicklungen und diesem Entwicklungstempo zu stellen.

Einen kräftigen Impuls für die politische Wirksamkeit des neuen Behinderungsbegriffs gab ein bedeutendes völkerrechtliches Dokument aus dem Jahr 2006: das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, kurz UN-Behindertenrechtskonvention oder UN-BRK. [www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/216492/un-behindertenrechtskonvention]

Im Grunde konkretisiert die Konvention die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte von 1948 in Hinsicht auf Menschen mit Behinderung.

Ihr liegt die Wahrnehmung zugrunde, dass diese Menschen oft nicht in den ungeschmälerten Genuss dieser Rechte kommen und sich „nach wie vor Hindernissen für ihre Teilhabe als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sowie Verletzungen ihrer Menschenrechte gegenübersehen“. Der Zweck des Übereinkommens ist es daher, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“

Zu den Menschen mit Behinderung zählt die Konvention „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Die Bestimmungen der UN-BRK richten sich auf alle Bereiche der Teilhabe – unter anderem auf Bildung, Arbeit, Familie, Gesundheitsversorgung, Recht, Information und Kommunikation. Zentrale Prinzipien sind die Respektierung der Menschenwürde, die Achtung der Selbstbestimmung (Autonomie) und die gleichberechtigte und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft (Inklusion).

Seit 2009 ist die UN-BRK auf Beschluss des Deutschen Bundestags für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich.

Seither ist der deutsche Staat auf allen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – zur Umsetzung dieses Gesetzes verpflichtet. Er muss regelmäßig Aktionspläne aufstellen und auf internationaler Ebene über deren Umsetzung berichten. Zudem muss die Zivilgesellschaft an der Umsetzung wie an der Bewertung der Umsetzung des Gesetzes beteiligt werden.

Doch die Liste der Defizite ist immer noch lang.

Zwei Beispiele mögen genügen: Wiederholt erfahren Menschen mit Behinderung, dass sie benachteiligt werden, wenn sie Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nicht angemessen dargelegt werden. Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie haben derartige Probleme noch zugenommen, und bislang steuern die zuständigen Behörden und Ministerien da nur halbherzig gegen. So haben einzelne Kommunen in der Corona-Krise mit Verweis auf begrenzte finanzielle Mittel die Übernahme der besonderen Kosten für die Beförderung behinderter Kinder zur Schule abgelehnt – und sie damit faktisch aus der Schule ausgeschlossen. Dass das eine schwerwiegende Verletzung des Rechtes auf Bildung darstellt, liegt auf der Hand.

Im Ergebnis lassen sich drei zentrale Erkenntnisse zusammenfassen:

  • Menschen mit Behinderung sind nicht Objekte wohlmeinender „fürsorglicher“ Versorgung zum Ausgleich ihrer Nachteile. Sie sind gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger.
  • Menschen mit Behinderungen brauchen kein Mitleid und keine Barmherzigkeit. Vielmehr haben sie haben Anspruch darauf, vollumfänglich in den Genuss ihrer Freiheits- und Grundrechte zu kommen und alle diejenigen Hilfen und Unterstützung zu erhalten, die ihre gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft, die ihnen wichtig sind, ermöglichen.
  • Staat und Zivilgesellschaft sind verpflichtet, Bedingungen zu schaffen, die die Teilhabechancen fördern, und Barrieren zu beseitigen. Denn Behinderung ist kein rein individuelles Problem, sondern konstituiert sich in Wechselwirkung mit der sozialen und physischen Umwelt.

Prof. Dr. med. Michael Seidel ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er hat u.a. als Oberarzt an der psychiatrischen Nervenklinik der Charité in Berlin gearbeitet, später bis zum Eintritt in den Ruhestand als Ärztlicher Direktor der v. Bodelschwinghschen Stiftungen in Bethel (Bielefeld).

Der Artikel ist mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: Evangelisches Zentrum Frauen und Männer (Hg.), leicht&SINN. Evangelisches Magazin für Frauen- und Gemeindearbeit, Oktober 2020, #mitleiden – www.leicht-und-sinn.de