Gab es ein sozialistisches Patriarchat?
Gleichberechtigung und Gleichstellung in der DDR

von Ursula Schröter

Ostdeutsche Frauen gleich zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland. In den Wirren der Umbruch-Zeit aber fielen diese zehn Prozent in vielerlei Hinsicht auf. Nicht nur, dass sie sich im Herbst 1989 mit kraftvollen Aktionen zu Wort gemeldet hatten und „den Staat machen“ wollten. Sie unterschieden sich auch gravierend von westdeutschen Frauen. Die Mütterrate betrug 92 Prozent, die Berufstätigenrate 91 Prozent. Beide Kategorien ließen sich nicht exakt mit der westlichen Statistik vergleichen, aber es ist unbestritten, dass westdeutsche Frauen weder der einen noch der anderen nahekamen.

DDR-Frauen trugen zu mehr als 40 Prozent zum Familieneinkommen bei, im Westen waren es 18 Prozent. Seit Anfang der 1970er Jahre hatten sie im formalen Qualifikationsniveau mit den Männern gleichgezogen. Das war im Westen 1990 noch nicht der Fall. Die so genannte gewollte Kinderlosigkeit, die in allen westlichen Industriestaaten vor allem bei hochqualifizierten Frauen beklagt wird, gab es in der DDR nicht. Ende der 1980er Jahre stand dem in Befragungen ermittelten Kinderwunsch von 1,9 eine Geburtenquote von 1,8 gegenüber, das heißt: Die jungen DDR-Menschen erfüllten sich fast vollständig ihren individuellen Kinderwunsch.i

Für solche Zahlen hatte die konservative Mehrheit in der deutschen Politik und auch in den Sozialwissenschaften sehr schnell Antworten parat. So vermutete beispielsweise Angela Merkel 1991, damals Ministerin für Frauen und Jugend, dass die Erwerbstätigkeit von Ost-Frauen zurückgehen werde – und dass das natürlich sei, weil es die Möglichkeit, „nur“ Hausfrau zu sein, in der DDR nicht gab. 30 Jahre später belegt die Statistik, dass das weibliche Bedürfnis nach Berufsarbeit im Osten nicht sinkt und im Westen steigt. Öffentliche Kinderbetreuung wird nicht mehr generell verteufelt, sondern auch im Westen angestrebt. Nach dem dramatischen „Gebärstreik“ Anfang der 1990er Jahre ist die Geburtenrate im Osten bereits seit 2008 wieder höher als im Westen – obwohl Arbeitslosigkeit und Armutsrisiko nach wie vor mehr Ost- als Westprobleme sind. Die Kinder werden heute auch im Osten biografisch später geboren als in der DDR, aber „gewollte Kinderlosigkeit“ bei Akademikerinnen ist nach wie vor ein Westproblem.

Es liegt also nahe zu fragen: Was hat DDR-Frauen so geprägt, dass auch die nächste Generation noch an einem ganzheitlichen Lebensentwurf festhält, an einem erfüllten Leben in der Öffentlichkeit und auch in der Privatheit?

Wer sich ein Bild über DDR-Politik machen will, muss zunächst das Konzept zur Kenntnis nehmen, nach dem die sozialistische Gesellschaft funktionieren sollte.

Dieses Konzept war in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden und zielte auf Überwindung der Klassenunterschiede. Mit Bezug auf die Marx‘sche Kapitalismuskritik wurde der Klassenwiderspruch als der alles entscheidende gesellschaftliche Widerspruch gesehen. Der Blick voraus war auf die klassenlose Gesellschaft gerichtet, der Blick zurück sah Geschichte vor allem als Geschichte von Klassenkämpfen. Der Kalte Krieg mit seinen klaren Feindbildern bestätigte die Bedeutsamkeit der Klassenfrage. Für andere gesellschaftliche Widersprüche – wie die zwischen den Ethnien oder den Geschlechtern oder den Generationen – blieb in Politik und Wissenschaft wenig Raum.

Was den Geschlechterwiderspruch betrifft, hatte uns Friedrich Engels – mit Bezug auf die Matriarchatsforschung des 19. Jahrhunderts, für die Namen wie Lewis Henry Morgan oder Johann Jakob Bachofen stehen – davon überzeugt, dass die Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln sowohl zum ersten Klassengegensatz als auch zur ersten Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche geführt hatte, der „welthistorischen Niederlage des weiblichen Geschlechts“. Folgerichtig schließt August Bebel in seinem berühmten Buch „Die Frau und der Sozialismus“ daraus, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet.

Sehr anschaulich beschreibt Bebel auch, wie der Prozess ablaufen soll: durch Einbeziehung der Frauen in die Öffentlichkeit, in die Berufsarbeit, überall dort, wo Männer schon sind: „Es ist an ihr, zu beweisen, dass sie ihre wahre Stellung in der Bewegung und in den Kämpfen der Gegenwart für eine bessere Zukunft begriffen hat und entschlossen ist, daran teilzunehmen. Sache der Männer ist es, sie in der Abstreifung aller Vorurteile und in der Teilnahme am Kampfe zu unterstützen.“ (S. 613).

In allen sozialistischen Ländern war Gleichberechtigung der Geschlechter als Heranführen der Frauen an Männerniveau gedacht und konzipiert, wobei die verständnisvolle Unterstützung der Männer unterstellt wurde.

Dabei war „Gleichberechtigung“ der übliche Begriff. Aber gemeint war nicht nur die Orientierung auf gleiche Rechte. Gemeint war Gleichstellung. Dieser feine Unterschied wurde aber erst in den letzten DDR-Jahren diskutiert.

Die westdeutsche Linke sprach mit Bezug auf Lenin vom Haupt- und Nebenwiderspruch. Der Klassenwiderspruch ist die Hauptsache, der Geschlechterwiderspruch die Nebensache. Die DDR-Politik und -Wissenschaft verwendete diese Formulierung nicht. Sie sprach davon, dass die Frauenfrage Bestandteil der Klassenfrage ist. Die Probleme, die Frauen in der DDR hatten und auch machten, wurden nicht mit den Strukturen der sozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht, sondern auf jahrtausendealte patriarchale Traditionen zurückgeführt, gewissermaßen als auslaufendes Modell betrachtet. Mit Bezug auf die „Klassiker“ konnte es ein sozialistisches Patriarchat nicht geben.

Aus heutiger Sicht wäre dazu erstens zu ergänzen, dass sich nicht nur August Bebel mit Bezug auf Engels zur Gleichstellung der Geschlechter äußerte, sondern unter anderem auch Clara Zetkin und Käte Duncker. Offensichtlich gab es Ende des 19. Jahrhunderts eine heftige Debatte dazu. So schrieb etwa Zetkin 1899 – da erlebte Bebels Buch gerade seine 30. Auflage – in einem Artikel: „Erschließt die Berufstätigkeit der Frau die Welt, so gibt sie dem Manne das Heim zurück. Denn wenn die Frau auf allen Gebieten menschlichen Schaffens als Mitarbeitende neben dem Manne steht, so gewinnt dieser Zeit und Kraft, als Mitarbeitender beim Ausbau des Heims und der Erziehung der Kinder neben der Frau zu wirken.“ Nach Clara Zetkin sollte Gleichstellung/Gleichberechtigung der Geschlechter in der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft also ein Entwicklungsprozess für Frauen und Männer sein. Das ist etwas völlig anderes als Heranführen der Frauen an Männerniveau, weil es auch die traditionelle Männerrolle infrage stellt. Es ist wohl kein Zufall, dass der Zetkin‘sche Artikel bis 1990 weder in der BRD noch in der DDR veröffentlicht worden ist.

Und eine zweite Anmerkung dazu: Engels‘ Thesen beziehungsweise die Ergebnisse der Matriarchatsforschung des 19. Jahrhunderts werden seit vielen Jahren in Frage gestellt. Mich überzeugen vor allem feministische Richtungen, die davon ausgehen, dass es nie ein Matriarchat im Sinne der Engels‘schen „Weiberherrschaft“ gegeben hat, wohl aber über Jahrmillionen hinweg in den Stämmen von Jäger:innen und Sammler:innen egalitäre Gesellschaften, und dass aus diesen in einem langen Prozess patriarchale wurden. Seit den 1960er Jahren gibt es dazu weltweit, vor allem aber aus USA, sehr viele Studien, die die Deutsch-Amerikanerin Gerda Lerner ausgewertet hat und zu dem Schluss kommen lässt: Der historische Ausgangspunkt für die Entstehung des Patriarchats war nicht die Entstehung des Privateigentums, sondern – sehr viel früher – „die Kontrolle und Nutzbarmachung der weiblichen Gebärfähigkeit durch Männer“. Ausdrücklich wendet sich Lerner gegen die Behauptung, dass die Frauen dabei völlig einflusslos gemacht wurden. Vielmehr hätten Frauen und Männer das Patriarchat gemeinsam geschaffen und Jahrtausende lang gemeinsam erhalten. Heute seien sie aufgefordert, es gemeinsam zu beseitigen.

Wenn aber das Patriarchat nicht zeitgleich mit, sondern lange vor der Klassengesellschaft entstanden ist, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft, mit der Schaffung von Volkseigentum auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet.

Daher kann es durchaus ein sozialistisches Patriarchat gegeben haben. Und das bedeutet auch, dass der Sozialismus des 20. Jahrhunderts bezüglich der Frauenpolitik auf einer falschen theoretischen Grundlage stand. Für mich ist das eher eine gute Botschaft. Denn damit wird vieles erklärbar, was es eigentlich nicht hätte geben dürfen: das ausschließlich männliche Politbüro, die Zuordnung der Hausarbeit mehrheitlich an Frauen, die niedrigeren Lohn-Tarife für so genannte Frauenberufe, der Umgang mit dem Abtreibungsthema – und nicht zuletzt die männerorientierte Geschichtsschreibung, die den Artikel von Clara Zetkin aus dem Jahr 1899 aus den Archiven verschwinden ließ, während Clara bei anderen Themen als Ikone der Arbeiterbewegung gefeiert wurde.

Heute steht die historische und sozialwissenschaftliche Forschung also vor der Aufgabe, neu nachzudenken: Wie hängen das Klassenproblem und das Geschlechterproblem zusammen? Warum kann das Patriarchat sich im Kapitalismus anders entwickeln als in einer Gesellschaft, in der Kapitalisten und Großgrundbesitzer enteignet wurden? Denn dass es so ist, dass es gravierende Unterschiede zwischen dem kapitalistischen und sozialistischen Patriarchat gibt, ist unbestritten. Diese Unterschiede will ich an drei Beispielen illustrieren.

1 Grundsatz der Gleichberechtigung

Sowohl in der DDR-Verfassung als auch im Grundgesetz stand, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. In den westlichen Besatzungszonen hatte der Parlamentarische Rat, der für die Ausarbeitung des Grundgesetzes verantwortlich war, vorgeschlagen: „Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Diese Formulierung entspricht dem Text der Weimarer Verfassung und lässt offen, ob Männer und Frauen auch im Beruflichen und Privaten gleichberechtigt sind. Es ist das Verdienst der vier Mütter des Grundgesetzes, vor allem von Elisabeth Selbert, die die Protestaktionen organisierte, dass die Einschränkung auf das Staatsbürgerliche schließlich gestrichen wurde.

In der sowjetischen Besatzungszone lautete der Vorschlag der Verfassungskommission: „Die Frau ist auf allen Gebieten des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens dem Manne gleichgestellt.“ Das ist mehr als „staatsbürgerlich“, aber auch hier ist offen, ob diese Formulierung das Private mit meint. Hier war es der seit 1947 bestehende DFD, namentlich Käte Kern, der seine Formulierungen dagegensetzte: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben“. Der DFD-Vorschlag wurde Verfassungstext. Der Zusatz, dass alle entgegenstehenden Gesetze aufgehoben sind, wurde auch im Westen diskutiert, aber nicht realisiert. Darum haben die Paragrafen 218 und 219 des Bürgerlichen Strafgesetzbuches in der DDR nie gegolten, wohl aber in der BRD.

2 Familiengesetzgebung

Beide deutschen Regierungen hatten sich bei Staatengründung verpflichtet, bis Anfang 1953 den Gleichberechtigungsgrundsatz zu konkretisieren und Familienpolitik gesetzlich zu regeln. Das gelang in der Bundesrepublik nicht und in der DDR nicht umfassend. Die Konkretisierung zog sich in der BRD über Jahrzehnte hin und musste immer wieder nach Einsprüchen des Bundesverfassungsgerichtes reformiert werden – etwa das Gleichberechtigungsgesetz 1957, das Nichtehelichengesetz 1969, das Eherechtsreformgesetz 1977 und das Unterhaltsänderungsgesetz 1986.

In der DDR wurde im September 1950 das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ erlassen. Es war kein umfassendes Familiengesetz, aber es legte die Rechte der Frauen unter anderem auf Kinderkrippenplätze, Kindergärtenplätze und Beratungsstellen fest. In der Präambel steht, dass Maßnahmen getroffen werden, „die nicht nur die rechtlichen, sondern auch die tatsächlich noch bestehenden Ungleichheiten beseitigen“. Eine solche Formulierung wurde 1994 (!) in Artikel 3, Absatz 2 auch in das Grundgesetz aufgenommen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

In § 14 der DDR-Verfassung heißt es: „Das bisherige Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen Angelegenheiten des ehelichen Lebens ist zu ersetzen durch das gemeinsame Entscheidungsrecht beider Eheleute.“ Eine analoge Regelung wurde in der Bundesrepublik 1977 beschlossen. Und § 17 legt fest: „Der Mutter eines nichtehelichen Kindes stehen die vollen elterlichen Rechte zu, die nicht durch die Einsetzung eines Vormundes für das Kind geschmälert werden dürfen.“ Im Westen wurde die Unterscheidung zwischen ehelich und unehelich erst 1998 mit der Reform des Kindschaftsrechts aufgehoben.

Auf das DDR-Gesetz von 1950 könnten wir also uneingeschränkt stolz sein – wenn es nicht § 11 gäbe, der Abtreibungen (wieder) verbot.

Mit Blick auf die ersten Jahre nach Kriegsende wird vermutet, dass die Macht habenden Männer weder in der Bundesrepublik noch in der DDR großes Interesse an der Familiengesetzgebung hatten. In der DDR sei es vor allem Hilde Benjamin gewesen, die auf ein dem Sozialismus entsprechendes Familienrecht drängte. Die viel gescholtene „rote Hilde“, die von 1953 bis 1967 Justizministerin war, veröffentlichte bereits in den 1940er Jahren Artikel zu Problemen der elterlichen Gewalt und der eigenständigen (!) Kinderrechte. 1954 erschien ihr erster Entwurf eines Familiengesetzbuches, das sie, in der Hoffnung auf eine gesamt-deutsche Familiengesetzgebung, auch ihrem westdeutschen Kollegen schickte. Schon hier werden sowohl Männer als auch Frauen für die Aufgaben des Haushaltes und die Kindererziehung verantwortlich gesprochen. Hilde Benjamin bezog sich in ihren Gleichstellungsüberlegungen also auf Clara Zetkin, nicht auf August Bebel. Doch der Entwurf versickerte. Nach Anita Grandke war die Zeit für ein solches Gesetz noch nicht gekommen.

Reichlich zehn Jahre später gab es zwar immer noch Vorbehalte und Widerstand, aber das „Familiengesetzbuch der DDR“ wurde dennoch beschlossen, nachdem es fast sechs Monate hindurch in der Bevölkerung öffentlich diskutiert worden war. Seit dem 1. April 1966 galten die Ehegatten – Familie ohne Ehe war in der offiziellen DDR in dieser Zeit noch nicht diskutabel – auch in der Familie als gleichberechtigt. Nach § 9 folgte daraus, dass „alle Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens und der Entwicklung des einzelnen“ im beiderseitigen Einverständnis zu regeln sind. Daraus ergaben sich Folgerungen für Eigentums- und Vermögensfragen, für Unterhaltsfragen, für Ehescheidungen und nicht zuletzt für den Umgang mit Kindern. Dass das Gesetz den familiären DDR-Alltag oft überforderte, steht außer Zweifel, spricht aber nicht gegen das Gesetz. Aus heutiger Sicht ist hervorzuheben: Es wurde nicht nur die Institution Familie geschützt (die Bedarfsgemeinschaft), sondern auch das Individuum in der Familie. § 10 allerdings lautet: „Die Beziehungen der Ehegatten zueinander sind so zu gestalten, dass die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann.“ Eine analoge Passage für die Vaterschaft wurde nicht für notwendig gehalten.

3 Abtreibungsverbot

Schon der Begriff ist problematisch. Die Weltgesundheitsorganisation WHO betont immer wieder, dass die gesetzlichen Bestimmungen keinen Einfluss auf die Anzahl der Abtreibungen haben, wohl aber auf die gesundheitlichen Risiken, die für Frauen damit verbunden sind. Insofern ist „Abtreibungsverbot“ ein falsches Wort. Denn man kann den Frauen Abtreibungen nicht verbieten, aber man kann ihnen den entsprechenden Gesundheitsschutz verwehren.

In der Bundesrepublik galt der § 218 unverändert in der Fassung von 1926. Der Unterschied zur Fassung von 1871: Statt Zuchthaus wurde „nur“ Gefängnis angedroht, und eine Ausnahme konnte nur gemacht werden, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war. In der DDR galt das Verbot seit 1950 wieder, und Otto Grotewohl hatte in seiner Gesetzesbegründung vor der Volkskammer auch keinen Hehl daraus gemacht, dass die neue Gesellschaft Werktätige brauche, um den Lebensstandard für alle zu erhöhen. Die Probleme, die DDR-Frauen mit dem Verbot hatten, sind zumindest in den fünfziger und frühen sechziger Jahren kaum öffentlich geworden. So starben in der DDR – vor der Legalisierung – 60 bis 70 Frauen pro Jahr an den Folgen einer unsachgemäßen Abtreibung. Und auch die diesbezügliche Frauenliteratur, die ja in der DDR eine ganz besondere Bedeutung hatte, erschien erst später, zum Beispiel Charlotte Worgitzkys Roman „Meine ungeborenen Kinder“.

1964 fand der Erste DDR-Frauenkongress statt. Im Vorfeld waren Frauen aufgefordert worden, Anträge an den Kongress zu richten und ihre Sorgen sowie ihre Erwartungen an DDR-Politik zum Ausdruck zu bringen. Der Antragskommission lagen etwa 13.000 Anträge vor; viele davon forderten ausschließlich oder unter anderem „bewusste Mutterschaft“.

Dieses Thema wurde zwar auf dem Kongress nicht öffentlich verhandelt, aber die Anträge wurden schon vor dem Kongress an die Frauenkommission des Politbüros weitergeleitet. Im Ergebnis entstand eine „ministerielle Instruktion“, die ab März 1965 galt und das Abtreibungsverbot in medizinischer und auch in sozialer Hinsicht lockerte („wenn die Pflege des Kindes große Belastungen erwarten lässt“). Die Veröffentlichung dieser Instruktion hat die führenden Genossen offenbar belastet. Im Bundesarchiv ist in einem Brief des Politbüros an die Ersten Sekretäre der SED-Bezirks- und –Kreisleitungen zu lesen: „Es wurde bewusst davon Abstand genommen, die erweiterte Möglichkeit zur künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung in Presse, Rundfunk, Fernsehen usw. zu popularisieren, da es … vermieden werden muss, dass in der Bevölkerung irrige Auffassungen über eine generelle Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechungen entstehen.“

Wenig später begann in der Bundesrepublik die Studentenbewegung, aus der die 2. Frauenbewegung hervorging. 1970 gründete sich die „Frauenaktion 70“. Die Frauen sammelten Unterschriften gegen § 218, schrieben offene Briefe, verteilten Informationen über abtreibungswillige Ärzt:innen, vermittelten Fahrten zu holländischen und englischen Abtreibungskliniken und organisierten auch selbst illegale Abtreibungen. Im Juni 1971 dann der Paukenschlag – auf Initiative von Alice Schwarzer und nach französischem Vorbild bekannten 374 namhafte Frauen im Stern: Ich habe abgetrieben. Im Innenteil der Zeitung waren die Namen und Adressen aller aufgeführt. Den ganzen Sommer über war deswegen Aufruhr im Westen. Es gab Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, neue Selbstbezichtigungen, auch von Männern: Ich war Komplize einer Abtreibung.

In der DDR fand im Juni 1971 der VIII. SED-Parteitag statt, auf dem die Gleichberechtigung der Frau nach dem Gesetz und im Leben verkündet wurde. Und Mitte Dezember empfahl das Politbüro dem Ministerrat der DDR, „in folgender Frage eine gesetzliche Regelung auszuarbeiten: Bis zum Ablauf von drei Monaten kann die Frau selbst entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft unterbrechen möchte…“. Bereits am 23. Dezember 1971 erschien im Neuen Deutschland der „Gemeinsame Beschluss des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR über die Ausarbeitung eines Gesetzes zum Selbstbestimmungsrecht der Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch mit Fristenregelung“. Am 9. März 1972 wurde das Gesetz beschlossen und in Kraft gesetzt. Der Abbruch wurde arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall gleichgesetzt. Das hieß unter DDR-Bedingungen: Er war für die betreffende Frau kostenlos.

Erstmalig in der Geschichte der Volkskammer wurde ein Gesetz nicht einstimmig beschlossen, sondern mit 14 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen. Der Minister für Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, ging in seiner Rede zur Begründung des Gesetzes auf die Einwände und Bedenken ein und äußerte seine Gewissheit, dass die Frauen der DDR von ihrem Recht verantwortungsbewusst Gebrauch machen würden. Ebenfalls ab März 1972 wurden Verhütungsmittel unentgeltlich abgegeben. Die öffentliche Berichterstattung zum Thema Abtreibungen hielt sich in der DDR bis zum Schluss in Grenzen. Aber Ende 1977 wurde „Cyankali“, das Drama von Friedrich Wolf, als Fernsehfilm gezeigt und anschließend eine Fernseh-Diskussion übertragen.

Es gibt offenbar keine schriftlichen Belege dafür, dass die plötzlichen Aktivitäten des SED-Politbüros mit der Stern-Aktion zusammenhängen. Trotzdem wird davon ausgegangen, dass die DDR-Regierung die Chance erkannte und ergriff, sich als die modernere deutsche Regierung zu präsentieren. Die Bedeutung dieses Gesetzes mindert das nicht. Das „Kernstück der Frauenunterdrückung“, wie die feministische Literatur das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bezeichnet, gab es in der zweiten DDR-Halbzeit nicht mehr.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie machen verständlich, dass „der historisch neue Familientyp“, den die Sachverständigen des Ersten Gleichstellungsberichtes der Bundesregierung im Osten fanden, bis heute Bestand hat.

i Dieser Text ist ein Vortrag von Mai 2019 im Frauentreff HellMa, einer Begegnungs- und Kommunikationsstätte für Frauen an der Marzahner Promenade. Dementsprechend werden hier genannte Zahlen nicht mit Quellenangaben belegt. Die Autorin, Mathematikerin und promovierte Soziologin, hat das Thema des Vortrages inzwischen ausführlich behandelt in: Ursula Schröter: Über Privates und Öffentliches. Eine ostdeutsche Sicht auf das geteilte Deutschland, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Manuskripte 28, Berlin Oktober 2020. Das Buch ist auch online zugänglich.