1.09.2019 „Noch ist nichts verloren…?“ – Polen und Deutsche erinnern den 1. September 1939
(Wolfram Hülsemann, Bündnis für Demokratie und Toleranz Marzahn-Hellersdorf)
Drei Mal, so habe ich gelesen, fährt ein Shuttlebus von Marzahn zum Polenmarkt über die Grenze ins östliche Nachbarland. Geschickte Handwerker aus Polen finden bei uns immer wieder Verdienstmöglichkeiten. Und wir haben kürzlich vier wunderbare Urlaubstage in der Nähe der polnischen Ostsee erlebt. Polen ist uns so nahe! Und doch ist es für uns mehr als ein inzwischen recht vertrautes Nachbarland. Denn der 1. September 1939 steht dafür als Vorzeichen. Er bleibt ein denkwürdiger Tag!
An diesem Tag vor 80 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht mit unvorstellbarer Brutalität auch gegenüber der Zivilbevölkerung unser Nachbarland. Das Militär machte den Weg frei für Mörderbanden, sogenannte „Einsatzgruppen“, die auf Befehl der Nazi-Führung willfährig Jüdinnen und Juden suchten, gefangen nahmen, sofort töteten oder in Lager verschleppten. Aber auch nichtjüdische Polen*innen wurden bei geringstem Widerstand gemordet bzw. in Arbeitslager verbracht, – die polnische Intelligenz verfolgt und ausgeschaltet. Die großen Vernichtungslager der deutschen Nazis wurden in Polen errichtet. Die polnische Nation sollte völlig vernichtet werden. Dieses wunderbare Land wurde durch Deutsche „zum mechanisierten Schlachthaus, dessen Fließband ständig die Leichen ermordeter Menschen davonträgt“, wie es der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz einmal nannte. Aber, – sollten wir daran nach 8o Jahren immer noch erinnern? – Doch stellt sich nicht eher die Frage: Dürfen w i r je vergessen? Ich will mich jedenfalls an diese große Katastrophe (1933 -1945) immer wieder erinnern lassen. Nicht weil ich mich damals schuldig gemacht habe, sondern weil ich Verantwortung spüre. Dafür gibt es gute Gründe.
Solange die nachkommenden Generationen der damals im Namen Deutschlands Versklavten u. Ermordeten das Ungeheuerliche erinnern, kann ich als Nachkomme der Tätergeneration nicht verdrängen und vergessen, was damals geschah. Ich frage uns als Christen*innen: will das oft missdeutete Kreuzessymbol in den Kirchen unseren Blick nicht insbesondere auf die Opfer mörderischer Willkür lenken? Freilich, das emotionale Gedächtnis der Opfer und ihrer Nachkommen ist intakter als das unsere. Wenn mein Empfinden irgendwie taub bleibt, nutze ich deshalb seit meinem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz (bei Oświęcim, Polen) eine Übung: Ich stelle mir meine geliebte Großmutter Gertrud vor: wie die Deutschen sie eingefangen, verschleppt und versklavt hätten. Wie sie ihr eine Nummer am Arm eintätowiert, Ihr die aschblonden Haare abrasiert und alles nahmen, was für sie wichtig war….und sehe sie schließlich auf dem Weg in die Gaskammer! Wenn sie zufällig eine Jüdin in Polen gewesen wäre, hätte sie das erlitten! Eine Übung, die ich gern „Perspektivwechsel“ nenne. Auf diese Weise kann ich dieser scheinbar altbekannten Ungeheuerlichkeit völlig neu begegnen. – Ich gehöre doch zu den Nachfahren der anderen Seite, den Nachkommen der Tätergeneration. – Mir bleibt die Scham (so auch unser Bundesaußenminister Heiko Maas kürzlich im Gedenken an den Warschauer Aufstand vor Ort) und die Verantwortung für das heute und morgen. Mit veränderter Sicht dürfen wir heute mit den Nachfahren der Opfer gemeinsam trauern. Das ist echter Friedensschluss, – mehr als Polenmarkt und Polenurlaub, weit mehr als verordnete Völkerfreundschaft.
Ein Friedensschluss, dessen Wert ich erkenne, wenn ich vorher an das erinnere, was mit dem September 1939 begann.
Polen hatte im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl die größten Menschenverluste der Nationen im 2. Weltkrieg: 5,65 Millionen Frauen, Männer, Kinder – ca. 95 Prozent davon waren Zivilisten
Evangelische Gottesdienste am 1.September 2019
Erinnerung an den Beginn des 2.Weltkrieges am 1. September 1939
9 Uhr Dorfkirche Marzahn
10.30 Uhr Gemeindezentrum Marzahn Nord, Schlesinger Straße 12
„Suche den Frieden und jage ihm nach!“ Jahreswort aus Ps. 34.15