24.01.2023 Erinnern an den 30. Januar 1933

Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichpräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler und übertrug ihm damit die Führung einer Koalitionsregierung unter Einschluss der NSDAP. Damit war er einer der wichtigsten Wegbereiter des deutschen Faschismus. Was darauf folgte, wissen wir alle.

Wer heute den Verbrechen der Nazis gedenkt, muss auch diesen verhängnisvollen Tag vor 90 Jahren mitdenken, denn die Erforschung von Ursachen und Herkunft des Faschismus sind notwendige Bestandteile jeder Erinnerungsarbeit. Das Jahr 1933 – Vom Faschismus als Bewegung zum Faschismus an der Macht weiterlesen »

Aus Anlass des Erinnerns an den 90. Jahrestag der Machtübertragung hat das Bündnis für Demokratie und Toleranz am Ort der Vielfalt Marzahn-Hellersdorf einen offenen Brief verfasst, den wir an dieser Stelle veröffentlichen:

Hitlers „Machtergreifung“… „Machtnahme“… „Machtübergabe“…?
Ein offener Brief an meinen jugendlichen Freund Leonard

Lieber Leonard,

wie Hitler eigentlich an die Macht kam, die Deutschen zu regieren? Ich weiß ja, dass Du mir diese Frage neulich gar nicht gestellt hast! Aber nach unserem langen Telefongespräch über das heutige Versagen der Regierenden kam die Frage mir selbst. Das hängt mit dem 30. Januar 1933 zusammen, also einer Zeit vor jetzt 90 Jahren! Dieser Tag steht für den Beginn des blutigsten, des verbrecherischsten Machtmissbrauchs in unserer deutschen Geschichte; – kein „Fliegenschiss“, wie der Herr Gauland von der AFD mal meinte.- Weshalb ich daran erinnern will? Noch immer gedenken einige Neonazis bewundernd der „Machtergreifung des Führers“. Sie wollen heute wieder ein anderes Deutschland. Und deshalb scheint es mir sinnvoll, an diese Zeit zu erinnern. Dazu muss man wissen: Bevor Hitler die Regierungsmacht übernahm, erlebten Millionen Menschen in unserem Land wirklich schlimme Zeiten. Die heutigen Zeiten finden auch viele Menschen irgendwie ganz schlimm. Du auch, wenn ich Dich richtig verstanden habe.

Aber kurz zurück in die Zeit vor mehr als 90 Jahren: Menschen hatten endlich erstritten und erkämpft, dass politische Parteien frei gewählt werden und keiner einfach von oben bestimmen konnte. Kaiser beschrieben nicht mehr ihre Macht „von Gottes Gnaden“. Der Kaiser war absetzt. Seitdem wählten Frauen und Männer frei eine Regierung oder wählten sie ab. Leider lief das nur gerade mal knapp 14 Jahre – von der Zeit nach dem Ende des 1. Weltkrieges bis 1933. Die große Demokratieidee von der Gleichwertigkeit jedes Menschen hatte sich durchgesetzt. Aber sie war für viele Menschen noch sehr gewöhnungsbedürftig.

Dass infolgedessen nun jede Bürgerin und jeder Bürger für das Gedeihen des Landes mit verantwortlich sei, leuchtete längst nicht allen ein. Das hatte Gründe: Unglaublich hohe und verhängnisvolle Strafzahlungen der Deutschen an die Siegermächte des 1. Weltkriegs, Massenarbeitslosigkeit, Geldentwertung, (Ein Wäschekorb voller Geldscheine für ein Brot!) führten viele Menschen in unbeschreibliches Elend. Die demokratische Idee verlor ihren einstigen Glanz. Die Proteste gegen die Regierenden blieben nicht aus. Gewaltfreie Streiks und Generalstreiks, aber auch bewaffnete Umsturzversuche sowohl von rechtsextremen Demokratiefeinden als auch kommunistischen Revolutionären rüttelten an den Grundfesten der Demokratie. Die oft wechselnden demokratisch gewählten Regierungen schlossen die gewählten Abgeordneten durch sogen. Notverordnungen aus. Sparprogramme führten in noch tieferes Elend.Das neue Oberhaupt des Staates, Hindenburg, träumte (undemokratisch) von Kaisers Zeiten. Die damalige Verfassung gab ihm viel Macht, Regierungen abzusetzen und neue zu berufen – ohne Wahlen. Für ein demokratisches Ringen, für den Streit der demokratischen Parteien um den richtigen Weg aus dem Elend hatte er keinerlei Verständnis. Er und seine Gesinnungsgenossen setzten auf eine „Konzentration nationaler Kräfte“. Schließlich sah er in der Nazipartei seine Verbündeten. Liberale, sozialdemokratische und kommunistische Kräfte sollten da gar keinen Platz haben. Verächtlich wurde die Parteiendemokratie als „System“ bezeichnet, das keine Existenzberechtigung hätte.

Die Partei Hitlers wuchs in Wellen bei immer öfter sich wiederholenden Wahlen. Die kam mit dem Versprechen, dass unter einem (!)Führer das deutsche Volk, also alle die „deutschen Blutes“ seien, in eine siegreiche Zukunft geführt würden. Und wer Deutscher oder Deutsche war, bestimmte selbstverständlich dieser Führer auch. Jüdische Deutsche, Roma und Sinti z.B. gehörten nicht dazu. Alle Jüdinnen und Juden wurden als Hauptschuldige am deutschen Elend bezeichnet. Weil Menschen für Sündenböcke in schwierigen Zeiten immer dankbar sind, kam das beim Volk gut an. Und was „Volkswille“ war, legten die Nazis fest. Andersdenkende sollten alle Rechte verlieren. Im Durcheinander der Zeiten tat diese scheinbar starke und entschiedene Stimme Hitlers vielen Wählerinnen und Wählern offensichtlich gut. Sie gaben Hitler ihre Stimme. Interessant ist, dass auch Chefs oder Eigentümer großer deutscher Konzerne oder auch Großgrundbesitzer meinten, der Mann könnte ihre Wünsche erfüllen. Viele von ihnen wollten die Ergebnisse des Krieges wieder rückgängig machen. Andere störte der Parteienstreit. Sie nahmen an, dass er endlich „aufräumen“ würde mit dem für sie üblen wirtschaftsschädigenden „Parteiengezänk“, wie sie es nannten. Auch sie schenkten ihm Vertrauen, gaben ihm ihre Zustimmung und förderten insbesondere seine kostspieligen Wahlkämpfe. Mit den Wahlergebnissen waren die Nazis dann trotzdem nie zufrieden. Sie gewannen nie absolute Mehrheiten. Aber im Hintergrund arbeiteten sie und andere nationalistische Kräfte am Sarg der Demokratie. Der Reichspräsident und alle, die die Uhr der Zeit zurück drehen wollten, schafften ein Bündnis ohne Wahlen, in dem Hitler zum Kanzler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten einfach ernannt werden konnte. Demokratinnen und Demokraten waren ausgetrickst worden.

Nachdem Hitler durch Hindenburg und seine Gesinnungsgenossen am 30. Januar die Macht übergeben wurde, begann ein blutiger brauner Terror; zuerst gegen Kommunisten, dann aber auch gegen alle demokratischen Kräfte. Diese unglaublich grausamen Vorgänge kann ich Dir hier nicht beschreiben. Ein von den Nazis schnell gefasstes „Ermächtigungsgesetz“ ließ das demokratische Leben erstarren. Die Presse wurde gefügig gemacht.Eine unglaubliche Propagandamaschine lief an. Das erklärt mir, warum bei der nächsten Reichstagswahl nach ca. 8 Wochen Hitler viel mehr Stimmen als sonst bekam. Allerdings wiederum nicht die absolute Mehrheit. Aber diese Wahl sollte die letzte sein. Die Demokratie hatte keine Chancen mehr.

Ich versuche Dir zu erklären: Viele Wählerinnen und Wähler waren, oft ohne über Konsequenzen nachzudenken, an der Übergabe der Macht an Hitler beteiligt. Hitler und die Nazis bekamen die Macht von Hindenburg und einer Clique überzeugter Nichtdemokraten, auch von Leuten aus den Kirchen, übertragen. Man überließ, genauer: man übergab Hitler aus tiefer Überzeugung oder aus politischem Desinteresse oder aus Resignation die Macht. Und die das aus politischer Überzeugung taten, wussten von seinen aggressiven Wahnvorstellungen.

Wenn ich, lieber Leonard, heute an diesen Tag vor 90 Jahren denke, hat das Gründe: Die Feinde einer solidarischen freien Demokratie sind inzwischen unüberhörbar. Die Feinde der demokratischen Idee bestreiten die Gleichwertigkeit aller Menschen. Mitten in einem um Frieden bemühten Europa fantasieren sie von einem Deutschland in alten Grenzen oder einer unbegrenzten Vormachtstellung der Deutschen. Sie spinnen wieder von der Reinheit deutschen Blutes. Sie verharmlosen oder leugnen die Verbrechen Nazi-Deutschlands. Das streitbare Ringen zwischen demokratischen Parteien und die in Kompromissen gefundenen Entscheidungen verachten sie. Manchmal denke ich, dass ihre Anhängerschaft leise wächst. In den jetzt so schwierigen Zeiten winken Leute oft ab, wenn es um Politik geht. Die einen behaupten, dass „die da oben“ alle unter einer Decke stecken, also mit uns Bürgerinnen und Bürgern ein böses Spiel treiben. Wenig später wird uns versichert, dass „die da oben“ sich einfach nicht einig werden und deshalb einer kommen muss, der auf den Tisch haut und sagt, wo es lang geht. Solche gefährlichen Entwicklungen, so habe ich gelernt, kommen nicht über Nacht und nicht durch einen Federstrich. Das Erinnern an den 30. Januar 1933 und seine Vorgeschichte kann unseren Blick für bedrohliche Entwicklungen, für Ziel und Strategie heutiger Antidemokrat*innen schärfen. Ich kenne kein Land, dem eine autoritäre bzw. diktatorische Herrschaftsform auf Dauer gut getan hat. Darum gefällt mir die Beschreibung Winston Churchills: „Die Demokratie ist zwar die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ Was der wohl damit gemeint hat?

Lieber Leonard, ich danke Dir für Deine Geduld beim Lesen, bin sehr neugierig,
wie Du über all das denkst und grüße Dich wie immer sehr herzlich.

Dein Karl Wolfram