9.06.2020 Interview der Kampagne Solidarische Kieze mit Yvonne Vedder vom Stadtteilzentrum Mosaik

Yvonne Vedder ist Leiterin des Stadtteilzentrums Mosaik (Altlandsberger Platz 2, 12685 Berlin)

Habt Ihr bereits von der vor kurzem gestarteten Kampagne „Solidarische Kieze in Marzahn-Hellersdorf“ gehört? Was haltet Ihr von der Idee? Könntet Ihr Euch vorstellen Euch daran aktiv zu beteiligen, z.B. indem Ihr z.B. eigene Formate mit dem frei zur Verfügung stehenden Kampagnenlogo kennzeichnet?

Vedder: Ja, ich habe über das Bündnis für Demokratie und Toleranz von der Kampagne Solidarische Kieze in Marzahn-Hellersdorf gehört und gelesen. Ich finde die Idee gut und wichtig um die Sichtbarkeit der verschiedenen. Solidaritätsnetzwerke, Einrichtungen, Organisationen und Gruppen im Bezirk zu erhöhen. Ich kann mir vorstellen mich unter dem Diversity-Aspekt und zum Thema Integration zu beteiligen.

Was versteht Ihr heute unter dem Begriff „Solidarität“? Ist das für Euch noch zeitgemäß und falls ja, wie kann oder sollte praktische Solidarität in diesen schwierigen Zeiten aussehen?

Vedder: Ich verstehe unter dem Bergiff „Solidarität“: Gemeinsames bekämpfen wahrgenommener sozialer Missstände, ein gemeinsames Einstehen für “ etwas“ z.B. Ideen, Aktivitäten und Ziele, unter dem Prinzip der Wechselseitigkeit (ein Geben und Nehmen). Solidarisches Handeln sollte nicht ausschließlich unter „Gleichen“ stattfinden, sondern Differenzen und Distanz überwinden.

Der Begriff „Solidarität“ wird in der Corona Krise oft herangezogen. Wie verhält es sich mit der tatsächlich gelebten Solidarität? Ich bin mir nicht so sicher was Solidarität ausmacht und wo die Grenzen liegen.

In den letzten Wochen zeigte sich, wie wichtig es ist, dass wir solidarisch füreinander einstehen. Wie notwendig Nachbarschaftshilfe ist und wie gut sie in der Krise funktioniert.

Viele Dinge des täglichen Leben (Einkaufshilfen, Spenden, Beratungen) lassen sich durch Nachbarschaftshilfe organisieren. Es sind aber oft die Kleinigkeiten: freundlich sein, kurze und auch manchmal längere Gespräche führen.

Grade in der aktuellen Situation ist es die Aufgabe der Stadtteilzentren, Impulse zu setzen um praktische Solidarität zu organisieren. Mit Abstandsregelung und schrittweiser Öffnung. Wir sollten Orte für Kommunikation, Dialog und Austausch schaffen. Verschiedene  Dialogformen mit flachen Hierarchien, kreativ und flexibel entwickeln. Angebote zur Gesundheitsförderung wie Salutogenese, Ernährung und Bewegung finde ich wichtig.

Wie schätzt Ihr aktuell die soziale Situation in den Stadtteilen und Kiezen unseres Bezirks ein? Wie nehmt Ihr die   Stimmungslage in den Nachbarschaften wahr? Was sind aktuell die dringendsten Bedürfnisse der hier lebenden Menschen?

Vedder: Allgemein kann ich sagen, dass die aktuelle Situation nicht alle Bewohner*innen gleichermaßen betrifft. Bestimmte Menschen leiden stärker unter der Pandemie als andere. Das sind Menschen, die schon vor der Krise mit Problemen zu kämpfen hatten. Die Menschen im Kiez haben das Bedürfnis nach Chancengleichheit, verständlichen Informationen, gegenseitiger Anerkennung, Kommunikation auf Augenhöhe. Die Menschen in unserem Stadtteilzentrum möchten etwas für ihre Gesundheit tun nicht nur durch Bewegung und Ernährung, sondern auch durch Begegnung, Bildung und Kreativkurse.

Welche Menschen bzw. Gruppen glaubt Ihr – auch auf Grundlage Eurer Erfahrungen – werden in demokratischen Entscheidungsprozessen übersehen bzw. nicht sichtbar oder werden gar ausgeschlossen von den „Aktiven“ und den bestehenden Strukturen?

Vedder: Ich glaube die Gruppe der älteren Menschen (oft von Altersarmut betroffen), wird in demokratischen Entscheidungsprozessen übersehen. Sowie die Gruppe der Menschen mit Einwanderungsgeschichte, Asylsuchende, Jugendliche, Alleinerziehende und Menschen mit Handicap.

Zu Beginn der Coronakrise war das Wort „Solidarität“ plötzlich in aller Munde und es entstanden viele neue Nachbarschaftsstrukturen und Hilfsangebote. Auch hier im Bezirk gab und gibt es vom gemeinsamen Nähen von Community-Masken über Gabenzäune und Einkaufshilfen für hilfebedürftige Menschen eine Menge positive Ansätze. Wie verhindern wir, dass diese positiven Ansätze von solidarischem Handeln durch die zunehmenden Verschwörungsmythen, verstärkten Rassismus und von Rechten vereinnahmten sogenannten „Hygienedemos“ verloren gehen und die gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung in der Post-Corona-Zeit wieder bzw. weiter zunimmt? 

Vedder: Damit durch Falschmeldungen und Verschwörungsmythen zu Corona keine Ängste und Unsicherheiten geschürt werden, ist es wichtig den Bürger*innen zuzuhören. Im persönlichen Gespräch können wir über  Ängste und Unsicherheiten sprechen. Das Wichtigste ist aufzuklären,  Hintergründe aufzuzeigen und Fakten und Informationen bereitzustellen. Wir können gemeinsam Handzettel mit aktuellen Studien von Wissenschafter*innen entwickeln und auf Faktenchecker- Seiten verweisen um Bürger*innen zu informieren. Darüber hinaus könnten wir einen Online Workshop anbieten zur Argumentation und Intervention  anhand von Fallbeispielen, Wie kann ich mich argumentativ für eine Diskussion rüsten?

(Juni, 2020)