13.04.2016 „Nächste Station: Poelchaustraße“

Erschienen am 13.04.2016 bei LichtenbergMarzahnPlus.de und im Bezirks-Journal.

„Nächste Station: Poelchaustraße“, diese Ansage hören täglich S-Bahnpassagiere der Linie 7, die gerade den S-Bahnhof Marzahn oder Springpfuhl passiert haben. Den Namen erhielt der Bahnhof von der angrenzenden Poelchaustraße, welche 1992 nach dem NS-Widerständler Harald Poelchau (1903-1972) benannt wurde. Nun hat sich im Rahmen des Bündnisses eine Gruppe von engagierten Bürger_innen zusammengefunden, die Lebensgeschichte Poelchaus im Bezirk bekannter zu machen.

„Stilles Engagement“ und „religiöser Sozialist“

Poelchau, der sich in den 1920er-Jahren der Strömung des „religiösen Sozialismus“ anschloss, wirkte während der NS-Zeit als Gefängnisseelsorger. Nach 1945 arbeitete er u.a. als erster Sozial- und Industriepfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Den einen ist er als Mitglied der „Bekennenden Kirche“ und Teilnehmer der NS-Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ von Bedeutung. Bedeutend war sein „stilles Engagement“ als Gefängnisseelsorger, der in den NS-Haftanstalten Tegel, Moabit und Plötzensee über 1.000 zum Tode Verurteilte bis zu ihrem Tod begleitete. Poelchau half außerdem zahlreichen Menschen, die vor dem NS-Terrorapparat flohen oder untertauchen mussten. Den anderen ist sein Engagement als „religiöser Sozialist“ im Bereich der Arbeiterjugendbildung und -hilfe bis zu seinem Tod 1972 ein Vorbild.

Vielen im Bezirk unbekannt

Poelchau indes lebte Zeit seines Lebens nie im Bezirk und wird daher nicht wenigen vor Ort unbekannt sein. Daher hat sich aus privater Initiative heraus eine Gruppe von interessierten Bürger_innen zusammengefunden, um Harald Poelchau im Bezirk bekannter zu machen. Dies freilich nicht ohne Hintergedanken, denn er gilt den Initiator_innen des Projektes als Vorbild für eine solidarische Grundhaltung und gelebte Menschlichkeit, für Zivilcourage, demokratische Teilhabe und Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens. Die Erinnerung an ihn – insbesondere in der Region der Poelchaustraße – soll ein Beitrag zur Stärkung der demokratischen Identität sein. Aus diesem Grunde hat sich diese Initiative dem Bündnis für Demokratie und Toleranz angeschlossen.

Mehr als Denkmäler und Straßennamen

Im Bündnis ist zugleich, ausgelöst durch diese Initiative, die Erkenntnis gereift, dass auch die Erinnerungskultur und die Arbeit an der Erinnerung ein wichtiger Teil der Demokratieentwicklung ist. Demokratische Erinnerungsarbeit ist mehr als die Errichtung von Denkmälern oder die Benennung von Straßen und S-Bahnhöfen. Sowohl in der Poelchau-Initiative als auch bei den so unterschiedlichen Mitgliedern im Bündnis für Demokratie und Toleranz zeigt sich ein lebendiges Interesse daran, Orte, Straßen und Denkmäler im Bezirk auch historisch zu verstehen. Und Denkmäler und Straßennamen stehen dabei meist am Ende einer mindestens ebenso wichtigen demokratischen Verständigung über historische Ereignisse und Personen im Bezirk, die sehr viel über unsere aktuelle Gesellschaft sagen können. Diskussionsprozesse über die Erinnerungslandschaft und einzelne historische Begebenheiten finden einerseits in Gremien wie der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), der bezirklichen „Kommission Gedenkorte“ oder in den Medien statt, andererseits auch in der Zivilgesellschaft, etwa in Geschichtswerkstätten, Bildungseinrichtungen, Schulen und Schulprojekten oder in Institutionen wie dem Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V. Die Poelchau-Initiative, die vom Ökumenischen Forum getragen wird, ist ein Beispiel für eine demokratische Erinnerungsarbeit „von unten“, welche das Bündnis für Demokratie und Toleranz insbesondere im Kampf gegen rechtsextreme Geschichtsumdeutungsversuche unterstützen wird.

Raiko Hannemann

Das Bündnis für Demokratie und Toleranz am Ort der Vielfalt Marzahn-Hellersdorf informiert jeden Monat bei LiMa+ und im Bezirks-Journal über seine Aktivitäten und Vorhaben, über Ansichten und Ideen.