18.02.2016 Das Leid mit der Leitkultur

Erschienen am 11.02.2016 bei LichtenbergMarzahnPlus.de und im Bezirks-Journal.

In diesen Tagen überschlagen sich die Vorschläge, was von Flüchtlingen mit Blick auf eine gelingende Integration erwartet werden soll. Einer der letzten Vorschläge: Zuwandernde und Flüchtlinge sollen eine Integrationsverpflichtung unterschreiben. Mit dieser sollen sie sich verpflichten, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und das Existenzrecht Israels anzuerkennen und erklären, dass sie der Scharia keinen Vorrang vor deutschen Gesetzen geben. Kurzum, sie sollen unsere Werte teilen. Wer dem zuwider handelt, dem sollen ggf. Sozialleistungen gekürzt oder der Aufenthaltsstatus geändert werden.

Leitbild Hausfrauenehe bis 1977

Nun wird niemand bezweifeln, dass gemeinsame Werte für eine Gesellschaft von großer Bedeutung sind. Deren Anerkennung allerdings zu Beginn eines Miteinanders zu erzwingen, dürfte von wenig Erfolg gekrönt sein. Eine solche, sofort einzuhaltende Verpflichtung wäre zudem zutiefst ungerecht. Die Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise stand schon seit 1949 in Artikel 3, Abs. 3 des Grundgesetzes; die tatsächliche Gleichstellung aber steht immer noch aus und die Schritte bis zum heutigen Stand erfolgten – das lehrt ein Blick in die (west)deutsche Geschichte – eher im Schneckentempo. So wurde in der Bundesrepublik das Leitbild der so genannten Hausfrauenehe erst 1977 durch das Partnerschaftsprinzip ersetzt. Erst seitdem bestand für Frauen das uneingeschränkte Recht auf Erwerbstätigkeit und die gemeinsame Verpflichtung der Eheleute für Haus- und Familienarbeit. Und: Diejenigen, die nun von Menschen aus anderen Kulturkreisen eine unmittelbare Anerkennung dieses Grundprinzips fordern, standen bislang nicht im Verdacht, die Speerspitze der Gleichstellungspolitik zu sein.

Geduld ist gefragt

Im Sinne der Gerechtigkeit stellt sich zudem die Frage, ob Menschen ohne Zuwanderungs- oder Fluchthintergrund, die bestimmte Werte in Frage stellen, auch mit Leistungskürzungen zu rechnen haben. Davon ist aber bisher nichts zu hören. Und auch die seit neuestem lauter werdende Forderung danach, dass Flüchtlingen die sexuelle Vielfalt zu akzeptieren hätten, hat ein gewisses G’schmäckle. Dauerte es doch in der DDR bis 1985 und in der Bundesrepublik bis 1994, bis die Strafbarkeit homosexueller Handlungen ersatzlos gestrichen wurde. Wir sollten Flüchtlingen von unseren Werten erzählen, dabei aber nicht verschweigen, dass auch viele von uns sich nur äußerst langsam von traditionellen Vorstellungen verabschiedet haben und manche es bis heute nicht geschafft haben. Wir sollten für die Anerkennung werben und denjenigen, die wir davon überzeugen wollen, Zeit lassen, sich dem ihnen vielleicht Fremden zu nähern. Diese Aufgabe stellt sich auch das Bündnis für Demokratie und Toleranz. Geduld ist gefragt – kein Zwang.

Henny Engels

Das Bündnis für Demokratie und Toleranz am Ort der Vielfalt Marzahn-Hellersdorf informiert jeden Monat bei LiMa+ und im Bezirks-Journal über seine Aktivitäten und Vorhaben, über Ansichten und Ideen.